Eileens Zeugnis: eine Erinnerung, die Generationen überdauert
- Joël PARE

- 14. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
In diesem Zeugnis reflektiert Eileen über die Last des Schweigens in der Familie und die Weitergabe von Kriegswunden über Generationen hinweg. Ihre Geschichte ist Teil des International Bulletin of Encounter Reconciliation .
Über den Autor und das International Bulletin
Dieser Artikel stammt aus dem Bulletin International, einer Zeitschrift, die von Gonda Scheffel-Baars, einem Gründungsmitglied der niederländischen Vereinigung Werkgroep Herkenning (Anerkennung), gegründet und herausgegeben wird.
Seit 1995 bietet das International Bulletin einen einzigartigen Raum für Dialog und Erinnerung an Kriegskinder in Europa – Kinder von Widerstandskämpfern, Verfolgten, Kollaborateuren und feindlichen Soldaten. Seit über dreißig Jahren sammelt und verbreitet Gonda Scheffel-Baars Zeugenaussagen aus den Niederlanden, Deutschland, Frankreich, Skandinavien und Großbritannien und trägt so zu einem besseren Verständnis der Wunden bei, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat, und wie diese über Generationen weitergegeben werden.

Die Veröffentlichung dieser in mehrere Sprachen übersetzten Geschichten auf unserer Website ist Teil der Mission des Vereins Rencontre Réconciliation: in Frankreich und Europa die Vielfalt der vom Krieg geprägten Familiengeschichten bekannt zu machen und zur gegenseitigen Anerkennung und Versöhnung beizutragen.
Weitere Informationen zum International Bulletin: www.werkgroepherkenning.nl
Eileen gehört zu jenen Erben der Geschichte, die, manchmal trotz allem, die Erinnerung an eine bewegte Vergangenheit in sich tragen. Zwischen überlieferten Erinnerungen, tiefem Schweigen und persönlichen Fragen zeugt ihre Geschichte davon, wie Kriege auch heute noch unser Leben prägen. Mit einfachen, aber tiefgründigen Worten lädt sie uns ein, über die Weitergabe von Wissen zwischen den Generationen und den möglichen Weg zu einer intimen und kollektiven Versöhnung nachzudenken.
Eileens Geschichte – Familienerinnerung und Weitergabe
Eine Geburt im Zeichen des Krieges
Jahrzehntelang war Eileen überzeugt, die Tochter eines deutschen Soldaten zu sein, ein „Kind des Feindes“. Geboren im April 1946 in einem niederländischen Internierungslager, in dem auch ihre Mutter inhaftiert war, hatte sie keinen besonders guten Start ins Leben. Ihre Mutter Anja hatte mit den Deutschen kollaboriert und wurde verhaftet und interniert, als ihre Schwangerschaft entdeckt wurde. Alle gingen davon aus, ihr Baby sei von einem deutschen Soldaten gezeugt worden. Doch Anja wusste, dass der Vater des Kindes ein kanadischer Befreier war, mit dem sie eine kurze Beziehung gehabt hatte.
Eine von Trennung geprägte Kindheit
Das erste Jahr ihres Lebens verbrachte Eileen mit ihrer Mutter im Lager. Die Behörden entschieden jedoch bald, dass dies kein geeignetes Umfeld für die Erziehung eines Kindes sei, und planten, sie in ein Waisenhaus zu bringen. Anjas Eltern, die wegen ihrer Kollaboration jeglichen Kontakt zu ihrer Tochter abgebrochen hatten, erfuhren von diesen Plänen und beschlossen, Eileen bei sich aufzunehmen. Eines Tages verfügten die Behörden jedoch, dass Eileen zu ihrer Mutter ziehen konnte, die nun in einem Umerziehungszentrum für ehemalige Kollaborateure lebte, wo die Lebensbedingungen wesentlich besser waren als im Lager. 1954 wurde ihre Mutter freigelassen, und Anja und Eileen konnten sich endlich auf ein normaleres Leben freuen.
Die Entdeckung eines kanadischen Vaters
Mit elf Jahren erfuhr Eileen, dass ihr Vater kein Deutscher, sondern Kanadier war. Ihre Mutter blieb jedoch ausweichend: „Frag mich, wenn du 18 bist, dann gebe ich dir mehr Informationen“, sagte sie zu ihr. Später heiratete ihre Mutter einen Zollbeamten, der bereits eine Tochter hatte. Anja jedoch war hart und gewalttätig gegenüber Eileen und ihrer Halbschwester. Die wiederholten Misshandlungen trieben Eileen dazu, so schnell wie möglich von zu Hause wegzugehen. Sie träumte davon, Ärztin zu werden, entschied sich aber aus Geldmangel für eine Ausbildung zur Krankenschwester in Wageningen.
Mit 18 Jahren kehrte Eileen zu ihrer Mutter zurück, um mehr über ihren Vater zu erfahren. Doch die Informationen blieben spärlich. Schnell stellte sie fest, dass es in Kanada viele „Bill Whites“ gab. Entmutigt gab sie ihre Suche auf.
Eine neue Familie kennenlernen
Viele Jahre später, nach der Lektüre des Buches „Roots: The Voices of the Left Behind“ von Olga und Lloyd Rains, die ihr Leben der Suche nach den Kindern kanadischer Soldaten verschrieben hatten, fand Eileen wieder Kontakt zu ihren Vätern. Mit ihrer Hilfe fand sie ihre Familie. Im Frühjahr lernte sie ihre beiden kanadischen Halbschwestern April und Vanessa kennen.
Sie erzählten ihr, dass ihr Vater, Bill White, sich freiwillig als Militärarzt gemeldet und an den Schlachten um Antwerpen und der Befreiung der östlichen Provinzen der Niederlande teilgenommen hatte. Sie beschrieben ihn als einen herzlichen und fürsorglichen Mann. Sie waren etwas enttäuscht, als sie feststellten, dass er in den Niederlanden nie über seine Tochter gesprochen hatte. Dabei wusste er von ihrer Existenz, da Anja ihm von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte. Er hatte ihr sogar Kleidung und Geld geschickt. Da Anja zu dieser Zeit inhaftiert war, konnte sie auf seine Briefe nicht antworten. Die kanadischen Schwestern glauben, dass ihr Vater ihnen von Eileen erzählen wollte – er hatte ihren Vornamen ausgesucht –, aber nach dem plötzlichen Tod seines Sohnes William, der erst 15 Jahre alt war, hörte er auf, über den Krieg zu sprechen, da die Erinnerung daran zu schmerzhaft war.
Eine brüderliche Bindung wiederentdeckt
Im Sommer 2011 besuchten Vanessa und April Eileen in den Niederlanden. Sie erlebten mit eigenen Augen, dass Eileen trotz ihrer schwierigen Kindheit ihre Berufung gefunden hatte. Sie war eine renommierte Künstlerin und gleichzeitig eine geliebte Mutter, Ehefrau und Großmutter. Die beiden Schwestern, die eine behütete und glückliche Kindheit genossen hatten, fühlten sich fast schuldig, als sie Eileens harte Anfänge erfuhren. Doch sie beschlossen, in die Zukunft zu blicken.
Viele Jahre schwesterlicher Verbundenheit waren verloren, doch sie hofften, noch viele weitere gemeinsam zu erleben. Eileen plante, nach Kanada zu reisen, um das Land ihres Vaters zu erkunden, insbesondere die Indianergebiete, aus denen einige ihrer Verwandten stammten. „Jetzt verstehe ich, warum ich so dunkle Augen habe“, sagte sie lächelnd.
Eine Geschichte über Widerstandsfähigkeit und Leben
Die Geschichte von Eileen und ihren Stiefschwestern ist zugleich eine Geschichte von Krieg, Leid und Verlust, aber auch eine Geschichte von Liebe, Widerstandskraft und Leben.
📌 Kernpunkte: Familienerinnerung und die Suche nach der Wahrheit
Eileens Familienerinnerungen basierten lange Zeit auf einer grundlegenden Lüge: dass sie die Tochter eines deutschen Soldaten sei.
Hinter diesem mütterlichen Schweigen verbarg sich in Wirklichkeit eine andere Geschichte: die eines vermissten kanadischen Vaters und unbekannter Halbschwestern.
Die Suche nach der Wahrheit, selbst im späten Leben, hat es möglich gemacht, eine von Leid und Scham geprägte Kindheit in eine Geschichte der Widerstandsfähigkeit und brüderlichen Wiedervereinigung zu verwandeln.
Diese Geschichte erinnert uns daran, dass das Familiengedächtnis nicht feststeht: Es wird durch Recherche, Dialog und Offenheit für wiederentdeckte Verbindungen wiederhergestellt.
Möchten Sie Ihr eigenes Zeugnis weitergeben oder an unseren kommenden Veranstaltungen zum Thema Erinnerung und Weitergabe teilnehmen?




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